Du musst das nicht allein schaffen – Warum Co-Regulation kein Versagen ist
- Nina Payer

- 12. Sept.
- 3 Min. Lesezeit
In der Welt von Selbsthilfe, Persönlichkeitsentwicklung und Coaching hört man es ständig:
„Mach dich nicht abhängig von anderen.“
„Du kannst dir selbst genug sein.“
Aber was, wenn genau dieser Anspruch – alles allein schaffen zu müssen – Teil des Problems ist?

Nervensysteme sind soziale Systeme
Unser Nervensystem ist nicht dafür gemacht, dauerhaft unabhängig zu funktionieren. Es ist biologisch-sozial angelegt. Von Geburt an sind wir darauf angewiesen, über Nähe, Blickkontakt, Berührung, Stimme und Mimik Sicherheit zu erleben. Co-Regulation ist das, was passiert, wenn zwei Nervensysteme sich aufeinander abstimmen – meist unbewusst, aber hochwirksam.
Es beginnt bei der Mutter, die ihr Baby aufnimmt, wiegt und summt. Und es bleibt ein Leben lang relevant: Wenn ein Freund dich in den Arm nimmt. Wenn du die ruhige Stimme einer Kollegin hörst. Wenn dein Hund sich an dich kuschelt.
→ Dein System spürt: Ich bin nicht allein. Ich bin sicher. Ich kann entspannen.
Co-Regulation = das Gegenmittel zu Isolation
Viele Menschen haben gelernt:
Ich bin zu viel.
Ich darf niemanden belasten.
Ich muss selbst klarkommen.
Das Resultat ist chronisches Alleinsein, emotional und manchmal auch körperlich. Aber ohne Co-Regulation bleibt unser System in Alarmbereitschaft. Selbst bei besten Selbsthilfetools.
Co-Regulation ist keine Abhängigkeit.
Co-Regulation ist ein biologisches Grundbedürfnis, genau wie Nahrung und Schlaf.
Selbstregulation ist wichtig, aber nicht ausschließlich
Natürlich ist es hilfreich, zu lernen:
Wie du dich selbst beruhigen kannst.
Welche inneren Ressourcen dir zur Verfügung stehen.
Wie du aus Dysregulation in die Verbindung kommst.
Aber: Selbstregulation entwickelt sich aus Co-Regulation. Ohne die Erfahrung, dass jemand dich hält, beruhigt und sieht, wird es sehr schwer, das später allein zu schaffen.
Warum wir glauben, wir müssten es allein schaffen
Ein Blick auf den inneren Antreiber hilft:
„Ich darf nicht bedürftig sein.“
„Ich will niemandem zur Last fallen.“
„Wenn ich das nicht allein schaffe, bin ich schwach.“
Dieser Anspruch ist tief verwurzelt, oft durch Kindheitserfahrungen, in denen Co-Regulation fehlte oder mit Bedingungen verknüpft war (z. B. Liebe nur bei Leistung). Das Nervensystem hat gelernt: Verbindung ist unsicher oder nicht zuverlässig verfügbar.
Dann klingt ein gut gemeinter Coaching-Satz wie „Reguliere dich selbst“ eher wie: „Seh zu, dass du allein klarkommst!“
Beispiele für gesunde, gelungene Co-Regulation
Co-Regulation braucht keine Worte. Sie wirkt durch Präsenz, Sicherheit, Resonanz.
Ein paar Beispiele aus dem Alltag:
Eine Freundin, die dich einfach hält, wenn du weinst. Kein Ratschlag, kein „Lösungsvorschlag“. Nur Dasein.
Dein Hund, der sich in deinen Schoß legt, wenn du überfordert bist. Seine Ruhe überträgt sich auf dich.
Eine vertraute Stimme, die dich durch ihre Tonlage beruhigt. Das kann auch ein Hörbuch oder ein Podcast sein.
Ein Coach, der mit dir atmet und spürt, statt dich durch eine Übung zu pushen.
Ein langsamer, sicherer Augenkontakt, der dich in der Gegenwart verankert.
Diese Formen der Verbindung wirken direkt auf dein autonomes Nervensystem. Und sie schaffen erst die Möglichkeit, damit Selbstregulation überhaupt greifen kann.
Co-Regulation in meiner Arbeit
In meiner Begleitung ist Co-Regulation kein „Bonus“, sondern ein zentrales Wirkprinzip. Ob in Präsenz oder online: Mein Nervensystem kommuniziert mit deinem. Ich höre nicht nur zu, ich bin da, körperlich spürbar. Diese Präsenz, dieser Kontakt, ist oft der erste Schritt raus aus der Funktion – hin zur Verbindung.
Und ja, das darf sich am Anfang ungewohnt anfühlen. Aber es ist genau diese Erfahrung, die tief etwas verändert: Ich darf da sein, auch wenn ich nichts „leiste“.
Verbindung ist kein Rückschritt, sondern der Weg nach vorn
Wenn du das Gefühl hast, es „nicht allein zu schaffen“ – dann stimmt das vielleicht sogar. Aber nicht, weil du unfähig bist. Sondern, weil dein System Verbindung braucht, um sich zu regulieren. Das ist keine Schwäche. Das ist menschlich. Und du darfst Verbindung für dich nutzen – in Freundschaft, in Begleitung, in Beziehung, im Alltag.





Kommentare