Frauen mit spätdiagnostizierter ADHS
- Nina Payer

- 20. Okt.
- 4 Min. Lesezeit
Wie sie vorher gelebt haben, warum sie oft fehldiagnostiziert werden – und was sich nach der Diagnose wirklich verändert.

„Ich habe immer gedacht, ich müsste mich nur mehr anstrengen.“
Diesen Satz höre ich von fast jeder Frau mit einer späten ADHS-Diagnose. Viele von ihnen haben jahrzehntelang funktioniert – erfolgreich, empathisch, hochreflektiert. Und gleichzeitig innerlich immer erschöpft, überreizt und voller Selbstzweifel.
Sie sagen Dinge wie:
„Ich bin nicht faul, nur ständig überfordert.“ „Ich kann alles, aber nichts davon dauerhaft.“ „Irgendwie kenne ich nur Überaktivität und Erschöpfung - mein Leben ist ein ständiges Auf und Ab.“
Und irgendwann wird klar: Das war nie „normaler Stress“. Es war ADHS – unerkannt, kompensiert, fehlinterpretiert.
Wie Frauen mit unerkannter ADHS oft leben
Frauen mit ADHS fallen selten durch impulsives oder hyperaktives Verhalten auf. Sie fallen auf, weil sie unauffällig sind. Weil sie oft still, vernünftig, angepasst sind. Weil sie gelernt haben, Erwartungen zu erfüllen und das meist auf Kosten ihrer eigenen Regulation.
Typische Muster:
Funktionieren trotz Erschöpfung: immer weitermachen, auch wenn nichts mehr geht
Überanpassung: freundlich, hilfsbereit, kontrolliert, aber innerlich immer unruhig
Perfektionismus: lieber zu viel als zu wenig, Fehler bedeuten Scham
Kognitive Daueraktivität: Gedankenkarussell, Sorgen, Vergleiche
Emotionale Intensität: Gefühle kommen plötzlich, heftig und werden dann weggedrückt
Erschöpfung: chronisch müde, reizüberflutet, nicht regenerationsfähig
Viele dieser Frauen werden für ihre Anpassung gelobt. Niemand sieht, wie viel sie innerlich leisteten, um „normal“ zu wirken. Und sie selbst halten ihr Durchhalten für Stärke, bis sie irgendwann zusammenbrechen. Sobald Kinder mit ins Spiel kommen, wird es schon schwieriger. Spätestens, wenn sich die Wechseljahre ankündigen, geht dann oft gar nichts mehr.
Häufige Fehldiagnosen und Komorbiditäten
ADHS bei Frauen bleibt oft jahrzehntelang unerkannt, weil die Symptome nicht „typisch“ aussehen. Ein Großteil der ADHS-Forschung bezieht sich auf Jungen bzw. Männer, dabei zeigt sich ADHS bei Frauen meist ganz anders. Stattdessen werden mit der Zeit andere Diagnosen gestellt – zwar oft korrekt, aber nicht als Hauptursache erkannt:
Depression
Angststörung
Burnout / Erschöpfungsdepression
Zwanghafte Tendenzen oder Essstörungen
Traumafolgen / Anpassungsstörung
Hochsensibilität (oft zutreffend, aber unvollständig)
Diese Begleiterkrankungen entstehen nicht trotz, sondern häufig durch das unerkannte ADHS und durch ein Nervensystem, das ständig auf Hochspannung arbeitet.
Die späte Diagnose: Erleichterung und Identitätskrise zugleich
Wenn Frauen mit 35, 40 oder 50 erfahren, dass sie ADHS haben, folgt oft eine zwiegespaltene Reaktion: Erleichterung und Trauer.
Erleichterung, weil endlich alles Sinn ergibt. Weil man aufhört, sich selbst für faul, chaotisch oder unzulänglich zu halten. Trauer, weil man erkennt, wie viele Jahre man gegen sich selbst gearbeitet hat. Wie viel Energie ins Maskieren, Anpassen, Erklären geflossen ist. Und weil man sich fragt: „Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ich das früher gewusst hätte?“
Was sich durch die Diagnose verändert und was nicht
Die Diagnose ist kein Heilmittel, aber ein Kompass. Sie schafft ein neues Verständnis für das eigene Verhalten, für Erschöpfung, Beziehungsmuster, Bedürfnisse.
Sie verändert:
den Blick auf die eigene Vergangenheit („Ich war nie faul – ich war überfordert“)
den Umgang mit Energie und Planung („Ich brauche andere Strategien, nicht mehr Disziplin“)
den Selbstwert („Ich bin nicht kaputt, sondern anders verdrahtet“)
die Erlaubnis, Unterstützung anzunehmen
Aber: Die Diagnose allein reguliert das Nervensystem nicht. Sie erklärt, warum man sich so fühlt. Sie ändert noch nicht, wie man sich fühlt. Dafür braucht es Verständnis, Körperarbeit und oft auch medizinische Unterstützung.
Die Behandlungsmöglichkeiten sind ganz individuell
ADHS ist komplex, ein Spektrum und kein Weg passt für alle. Aber es gibt verschiedene Bausteine, die sich kombinieren lassen:
Medikation
Ab einem bestimmten Belastungsgrad, wenn das Funktionieren im Alltag, die emotionale Stabilität oder die Lebensqualität stark eingeschränkt sind, kann Medikation eine zentrale Rolle spielen.
Stimulanzien wie Elvanse oder Medikinet unterstützen das Gehirn bei der Dopaminregulation, verbessern Fokus, Impulssteuerung und Selbstregulationsfähigkeit.
Die Psychiaterin Astrid Neuy-Lobkowicz schreibt in ihrem Buch „ADHS bei Frauen“ dazu sinngemäß:
„Therapie allein bringt oft nicht viel – erst in Verbindung mit der passenden Medikation werden echte Fortschritte möglich.“
Das heißt nicht, dass Medikamente „alles lösen“, aber sie öffnen einen Raum, in dem therapeutische oder coachende Arbeit überhaupt erst wirksam werden kann. Besonders bei spät diagnostizierten Frauen, die jahrzehntelang kompensiert haben, ist eine rein verhaltensorientierte Begleitung meist nicht ausreichend.
Psychoedukation & Wissen
Wissen über ADHS entlastet. Es schafft Verständnis für Reizoffenheit, Zeitblindheit, Hyperfokus, emotionale Achterbahnen. Und es nimmt die Scham. Viele Frauen berichten "Jetzt ergibt endlich alles Sinn!".
Therapie & Coaching
Eine neurodivergenzsensible Begleitung ist entscheidend: kein reines Funktionieren-Wollen, sondern Regulation, Selbstanbindung, Umgang mit Reizniveau und Prioritäten. Wichtig: Die Arbeit sollte den Körper einbeziehen, denn ADHS ist kein rein mentales Thema.
Körperorientierte Nervensystemarbeit
Regulation beginnt nicht im Kopf, sondern im Körper. Viele Frauen mit ADHS haben sich selbst über Jahre nicht mehr gespürt. Nervensystemarbeit hilft, innere Sicherheit wieder aufzubauen, jenseits von Disziplin und Selbstoptimierung. 🤍
Selbstwahrnehmung neu lernen
Viele Frauen mit ADHS wissen erstaunlich wenig über ihre echten Bedürfnisse. Sie kennen ihre To-do-Listen, aber nicht ihre realistischen Grenzen. Sie spüren den Druck, aber nicht die Überforderung. Sie geben sich nicht die Erlaubnis, ihren Alltag nach in ihrem Tempo zu leben.
Ein Teil der Heilung besteht darin, den Körper wieder als Informationsquelle zu nutzen:
Wo spüre ich Spannung?
Wann kippt mein Reizniveau?
Wie merke ich, dass ich mich verliere?
Wie fühlt sich Sicherheit an, nicht nur theoretisch, sondern rein körperlich?
Diese Art von Selbstwahrnehmung ist keine Esoterik, sondern Neurobiologie. Und sie verändert langfristig mehr als jede neue Methode oder Checkliste.
Die Diagnose ist der Anfang – nicht die Lösung
Eine späte ADHS-Diagnose bringt Entlastung, Klarheit, aber auch neue Fragen. Sie erklärt, warum bisherige Strategien nicht nachhaltig waren und eröffnet die Möglichkeit, endlich Wege zu finden, die wirklich zu dir passen.
Veränderung braucht manchmal mehr als nur Selbstreflexion:
Sie braucht Medikation, wenn der Leidensdruck zu groß ist.
Sie braucht Körperarbeit, um dich wieder mit dir selbst zu verbinden.
Und sie braucht Verständnis statt Scham.
Du fragst dich, ob du wirklich „nur hochsensibel“ bist oder ob vielleicht mehr dahintersteckt?
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